InVIEdual übt massive Kritik am indirekten Gegenvorschlag zur Inklusions-Initiative
- InVIEdual

- 15. Okt.
- 4 Min. Lesezeit
«Das vorgeschlagene Inklusionsrahmengesetz verdient den Namen nicht: Was ein Rahmen sein soll, ist höchstens eine morsche Latte...» Mit diesen Worten kritisiert die Geschäftsleiterin von InVIEdual, Simone Leuenberger, den Gegenvorschlag des Bundesrates zur Inklusions-Initiative. InVIEdual hat an der Vernehmlassung teilgenommen und sich insbesondere auf Bestimmungen, die Assistenznehmende betreffen, konzentriert. Im Übrigen und zur Ergänzung verweisen wir auf die Stellungnahme von Agile.
Kritik am Inklusionsrahmengesetz
Verschiedene Mitglieder von InVIEdual sind Teil des Initiativkomitees der Inklusionsinitiative. InVIEdual unterstützt diese Initiative, die die rechtliche und tatsächlichen Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen endlich in der Bundesverfassung verankern will. Insbesondere soll sie die freie Wahl der Wohnform und des Wohnorts ermöglichen sowie die nötigen Assistenz- und Unterstützungsleistungen sicherstellen. Menschen mit Behinderungen wollen selbst entscheiden können, wie und wo sie leben, die Unterstützungsleistungen erhalten, die sie benötigen, und gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Die Schweiz hat sich 2014 mit der Ratifizierung der UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) dazu verpflichtet. Doch bis heute bleibt diese Verpflichtung ein leeres Versprechen. In seiner jetzigen Form ist der Gegenvorschlag keineswegs eine angemessene und ausreichende Antwort auf die Anliegen der von uns unterstützten Inklusions-Initiative.
InVIEdual weist deshalb den vorliegenden Entwurf zur vollständigen Überarbeitung zurück.
Kritik an der Teilrevision des Invalidenversicherungsgesetzes
Der Assistenzbeitrag ist für viele Menschen mit Behinderungen ein Türöffner in ein selbstbestimmtes Leben und er hat das Potential, das für viele weitere zu sein. Leider sind die Hindernisse für den Bezug eines Assistenzbeitrages zu gross. Fehlende Anspruchsvoraussetzungen, keine Unterstützung beim Übergang von einer Institution in die eigene Wohnung, zu wenig zugesprochene Stunden, zu geringer Stundenansatz, zu grosse administrative Belastung sind nur einige der Herausforderungen. Dass nun lediglich minim bei den Anspruchsvoraussetzungen eine Verbesserung vorgeschlagen wird, bedauern wir. Nach wie vor werden zehntausende Menschen mit Unterstützungsbedarf vom Assistenzbeitrag und somit von einem selbstbestimmten Leben ausgeschlossen. Einzig die Ausdehnung der Anspruchsvoraussetzungen wird dies nicht ändern.
Im Zusammenhang mit den ungedeckten Kosten und den arbeitsrechtlichen Anforderungen verweisen wir auf unsere Stellungnahmen Hilflosenentschädigung: Warum wir die Aufhebung der 100%-igen Anrechnung beim Assistenzbeitrag fordern und Wie Arbeitsrecht die Selbstbestimmung torpediert – Beispiel Modell-NAV SECO.
Unsere Forderungen
Menschen mit Behinderungen: Das Inklusionsrahmengesetz muss alle Menschen mit Behinderungen im Sinne der UNO-BRK umfassen und nicht nur «Invalide» im Sinne von Artikel 112b der Bundesverfassung. Sonst würden sogar einige unserer Mitglieder, die auf persönliche Assistenz angewiesen sind, ausgeschlossen, weil sie keine behinderungsbedingte Erwerbseinbusse und somit keine IV-Rente haben. Das finden wir stossend, betrifft doch ein grosser Teil des Inklusionsrahmengesetzes Menschen mit Behinderungen, die auf Unterstützung angewiesen sind.
Deinstitutionalisierung: Menschen mit Behinderungen sollen in Zukunft höchstens temporär in Institutionen Unterstützung finden können, damit sie befähigt und ausgerüstet werden, selbständig, allenfalls mit Unterstützung, ausserhalb von Institutionen leben zu können. Inklusion muss in der Gesellschaft stattfinden und sich an dem orientieren, was für Menschen ohne Behinderung selbstverständlich ist.
Wahlfreiheit: Menschen mit Behinderungen sollen die gleichen Wahlmöglichkeiten haben wie Menschen ohne Behinderung. Da Menschen ohne Behinderung nicht die Wahl haben in einem Heim zu leben, sollen auch Menschen mit Behinderungen diese Wahl zukünftig nicht haben. Im Zuge der Deinstitutionalisierung sollen Menschen mit Behinderungen nur noch zeitlich begrenzt in einem Heim wohnen dürfen. Institutionen müssen dafür sorgen, dass Menschen mit Behinderungen mit individueller, personenorientierte Unterstützung so leben können, wie das für Menschen ohne Behinderung selbstverständlich ist.
Isolation und Absonderung: Menschen mit Behinderungen sollen nicht aufgrund eines paternalistischen Schutzgedankens in kollektiven Wohnformen leben müssen. Auch Menschen mit Behinderungen haben das Recht auf Isolation und Absonderung. Gegen unfreiwillige Isolation und Absonderung müssen Massnahmen ergriffen werden wie z.B. barrierefreier Zugang nicht nur zur eigenen Wohnung, sondern auch zu denjenigen von Freund:innen, Bekannten, Arbeitskolleg:innen, Nachbar:innen, Parteikolleg:innen, usw.
Persönliche Assistenz: Persönliche Assistenz ist nutzergesteuerte menschliche Unterstützung für Menschen mit Behinderungen. Sie kann niemals von Institutionen erbracht werden. Menschen mit Behinderungen müssen die Möglichkeit haben, ihre persönlichen Assistent:innen selbst anzustellen und dazu die nötigen Mittel zur Verfügung haben. Massnahmen im Bereich Unterstützung müssen primär persönliche Assistenz und die direkte Anstellung von persönlichen Assistent:innen durch Menschen mit Behinderungen (oder ihre gesetzliche Vertretung) umfassen und erst in zweiter Linie Unterstützungsdienste.
IFEG: Das Inklusionsrahmengesetz darf keinen Platz bieten für das veraltete IFEG (Bundesgesetz über die Institutionen zur Förderung der Eingliederung von invaliden Personen), das aufgehoben oder umfassend totalrevidiert werden muss. Das IFEG widerspricht den Grundforderungen und dem Kerngehalt der UNO-BRK.
Öffnung Assistenzbeitrag: Kinder werden nach wie vor vom Assistenzbeitrag ausgeschlossen bzw. haben über den Verordnungsweg nur eingeschränkten Zugang. Dies muss im Zuge dieser Gesetzesrevision ebenfalls angepasst werden. Besonders stossend empfinden wir, dass Kinder ohne Intensivpflegezuschlag den Assistenzbeitrag verlieren, sobald sie in eine Sonderschule gehen. Der Entscheid Regelschule oder Sonderschule fällen meistens nicht die Eltern, sondern die Schulbehörden. Zudem ist der Zugang zur Regelschule von Kanton zu Kanton unterschiedlich. Kinder sind deshalb äusseren Einflüssen ausgeliefert, ob sie ein Leben mit persönlicher Assistenz von Anfang an erlernen dürfen oder nicht. Eltern haben keine Unterstützung bei der ausserschulischen Betreuung, sobald ein Kind aus der Regelschule fällt.
Personen mit eingeschränkter Handlungsfähigkeit haben schon jetzt Zugang zum Assistenzbeitrag sofern sie vor dem Erreichen der Volljährigkeit einen Intensivpflegezuschlag von min. sechs Stunden hatten, einen eigenen Haushalt führen oder einer Erwerbstätigkeit oder Ausbildung auf den 1. Arbeitsmarkt nachgehen. Die vorgeschlagene Ausdehnung der Anspruchsvoraussetzungen auf alle Personen mit eingeschränkter Handlungsfähigkeit ist zwar begrüssenswert, wird in der Praxis aber nur vereinzelt Menschen mit Behinderungen tatsächlich Zugang zum Assistenzbeitrag geben.
zur ganzen Stellungnahme von InVIEdual
zur Stellungnahe von Agile: Mutloser Gegenvorschlag verfehlt Ziele der Inklusionsinitiative





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