Hilflosenentschädigung: Warum wir die Aufhebung der 100%-igen Anrechnung beim Assistenzbeitrag fordern
- InVIEdual
- 27. Mai
- 3 Min. Lesezeit
Geschichtliches
Die Hilflosenentschädigung wurde mit der Invalidenversicherung 1960[1] eingeführt. Im Rahmen der 4. IVG-Revision wurde die Hilflosenentschädigung für zu Hause lebende Versicherte verdoppelt.[2] Im Gegenzug wurden die Beiträge an Behindertentransportdienste für Freizeitfahrten gestrichen. Begründung: Die Hilflosenentschädigung werde auch «in der alltäglichen Lebensverrichtung ‹Fortbewegung› ausgerichtet». Deshalb könnten die Versicherten «die von ihnen benötigten Transportdienste in Zukunft weitgehend selber finanzieren».[3]
Verwendung der Hilflosenentschädigung
Empirische Untersuchung
Im Rahmen des Forschungsberichts Nr. 2/13 «Wohn- und Betreuungssituation von Personen mit Hilflosenentschädigung der IV – Eine Bestandsaufnahme im Kontext der Massnahmen der 4. IVG-Revision»[4] des Büro BASS im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen wurde der Verwendungszweck der Hilflosenentschädigung erfragt.
Die Studie kam zu folgenden Ergebnissen:
64 % der zu Hause wohnenden Erwachsenen mit HE haben behinderungsbedingte Ausgaben, die sie aus ihren frei verfügbaren Mitteln finanzieren.
Die selbst bezahlten monatlichen Ausgaben von HE-Bezüger:innen mit schwerer Hilflosigkeit liegen durchschnittlich 927 Franken höher als diejenigen von HE-Bezüger:innen mit leichter Hilflosigkeit.
Die grössten Ausgabenpositionen sind:
Ausgaben für privat beauftragte Personen (32 % der Gesamtausgaben)
Ausgaben für Leistungen der Spitex bzw. Spitex-ähnlicher Organisationen (15 %),
Ausgaben für Transportdienste (10 %)
Ausgaben für Medikamente, Arztbesuche und Therapien (10 %),
symbolische Entschädigung von Personen, die Gratis-Hilfe leisten (9 %)
Ausgaben für Aufenthalte in Tages- und/oder Werkstätten (9 %)
Ausgaben für behinderungsbedingte Hilfsmittel (7 %)
Die Studie stützt sich auf Zahlen von vor 2012. Der Assistenzbeitrag war damals noch nicht eingeführt.
Assistenzbeitrag
Bei Arbeitgebenden fallen zusätzlich zu den obligatorischen Sozialversicherungsbeiträgen folgende Personalkosten an (Liste nicht abschliessend):
Spesen
Fahrkosten bei einem anderen als üblichen Arbeitsort bzw. auf Reisen ausserhalb der Schweiz, wo das Begleiterabo nicht gilt bzw. wenn mehr als eine Assistenzperson mitgenommen werden muss
Kost und Logis z.B. während Assistenz in den Ferien / bei auswärtiger Übernachtung wegen Arbeit oder freiwilliger/ehrenamtlicher Tätigkeit, bei einem Restaurantbesuch
Eintritte für Assistenzpersonen z.B. ins Freibad/Hallenbad, an eine Sportveranstaltung, ins Theater/Kino/Konzert, in einen Club usw.
Im Bedarf nicht eingerechnete Arbeitsstunden, die bezahlt werden müssen
Tagesstunden von 5 bis 6 Tagen pro Jahr, weil pro Monat nur 30 Tage gerechnet werden à führt zu Kosten von bis zu 2'500 CHF
Notwendigkeit von zwei oder mehr Assistenzpersonen während Ferien (um die Ablösung sicher zu stellen) oder in der Freizeit (z.B. für den Besuch im Schwimmbad)
Überschneidung der Arbeitszeiten bei Dienstablösung
Abgeltung von Präsenzzeit
Lohnzahlung während Teamsitzungen
Lohnkosten während Weiterbildungen von Assistent:innen
Einarbeitung von neuen Assistenzpersonen (doppelte Lohnzahlung z.B. auch nachts)
Mehrbedarf bei Krankheit/Unfall
Übliche Lohnzusätze
Sonntags- und Feiertagszuschläge
5. Ferienwoche
13. Monatslohn
Dienstaltersgeschenk
Weitere Personalkosten
Kurs-, Reise- und Verpflegungskosten für die Weiterbildung von Assistent:innen
Weihnachtsessen
Betriebsausflug
Weihnachts-/Geburtstagsgeschenk
Betriebshaftpflichtversicherung
Suchkosten wie z.B. Inseratekosten
Assistenzzimmer für die Übernachtung und/oder als Rückzugsort für Assistent:innen inkl. damit verbundene Haushaltskosten wie Wasser- und Stromverbrauch, Einrichtung, Bett- und Badezimmerwäsche inkl. Reinigung
Freistellung, wenn Weiterführung des Arbeitsverhältnisses subjektiv unzumutbar ist und keine fristlose Kündigung ausgesprochen werden kann
Sonstige behinderungsbedingte Mehrkosten
Zusätzlich entstehen unabhängig vom Bezug eines Assistenzbeitrags folgende Kosten, die üblicherweise mit der Hilflosenentschädigung finanziert werden (Liste nicht abschliessend):
Selbstbehalt bzw. Pauschale für Spitex-Einsätze
Fahrkosten mit dem Behindertentransportdienst (siehe Kapitel 1)
Nicht vergütete Hilfsmittel oder Hilfsmittelausführungen, z.B. Tasche am Rollstuhl, Sitzlift, Spezialtastatur, zusätzliche Spezial-Kleidung, zusätzliche Spezial-Schuhe, Mehrkosten Behindertensportgeräte, grösseres Auto, Autoumbau bei Nichterwerbstätigkeit, …
Mehrkosten für auswärtige Übernachtungen, weil teure Hotels barrierefreier sind
Mehrkosten für auswärtige Übernachtungen, weil zusätzliche Hilfsmittel gemietet werden müssen (wie z.B. Pflegebett, Patientenheber, Duschrollstuhl, …)
Mehrkosten für barrierefreie Reisen/Ferien wie z.B. Flugkosten, Transferkosten, Platz in einem barrierefreien Reisecar, barrierefreies Mietauto, …
Kosten für nicht vergütete Pflege- und Hygieneartikel wie z.B. Hygienehandschuhe, Einlagen, Masken, Desinfektionsmittel, Wegwerfschürzen, …
Mehrkosten für nicht von Versicherungen bezahlte Therapien, Medikamente, medizinische Behandlungen, …
Mitgliederbeiträge an Behindertenorganisationen (z.T. Pflicht für die Inanspruchnahme von Beratung)
Mehrkosten für Organisation, Planung, Abklärungen (z.B. Hotline-Gebühren, Kosten für notwendige Zusatz-Dienstleistungen, …)
Fazit
Für all die in Kapitel 2.2. und 2.3 aufgelisteten Kosten können Menschen mit Behinderungen, die einen Assistenzbeitrag beziehen, nicht auf die Hilflosenentschädigung zurückgreifen. Diese wird dem Assistenzbedarf angerechnet und steht deshalb nicht mehr zur freien Verfügung.
Um die Kosten dennoch finanzieren zu können, müssen entweder Assistenzstunden eingespart werden – d.h. Menschen mit Behinderungen haben weniger Stunden Assistenz zur Verfügung als ihnen bei der Bedarfsabklärung zugesprochen wurden – oder die Stundenlöhne bzw. Nachtpauschalen werden gekürzt.
Die erste Variante ist keine Lösung, weil die zugesprochenen Stunden ohnehin in den meisten Fällen knapp bemessen sind. Die zweite Variante ist keine Lösung, weil die Ansätze schon so sehr tief sind, um konkurrenzfähige Löhne bezahlen zu können.
Forderung
Wir fordern deshalb, dass die Hilflosenentschädigung dem Assistenzbeitrag nicht mehr angerechnet wird, sondern wie der Intensivpflegezuschlag zur freien Verfügung steht.

[1] Siehe BBl I 1959 1498–1524
[3] Siehe Botschaft über die 4. Revision des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung, Kapitel 2.3.1.5.2.2
[4] Wohn- und Betreuungssituation von Personen mit Hilflosenentschädigung der IV – Eine Bestandsaufnahme im Kontext der Massnahmen der 4. IVG-Revision, Schlussbericht
Commenti