Wie Arbeitsrecht die Selbstbestimmung torpediert – Beispiel Modell-NAV SECO
- InVIEdual
- 23. Sept.
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Mit den Vorschriften für Arbeitsverhältnisse in Privathaushalten des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) sollen die Arbeitnehmenden in Privathaushalten geschützt werden. Die Regelungen sind aber für Menschen mit Behinderungen, die Assistent_innen anstellen, so lebensfern, dass sie die Selbstbestimmung torpedieren. Ein weiteres Beispiel dafür, was mit fehlender Partizipation angerichtet wird. Denn Menschen mit Behinderungen wurden nicht in den Erarbeitungsprozess mit einbezogen.
Damit Menschen mit Behinderungen, die auf Unterstützung angewiesen sind, selbstbestimmt leben können, müssen sie die Möglichkeit haben, über diese Unterstützung zu entscheiden. Das sieht die UNO-Behindertenrechtskonvention vor, die die Schweiz im Jahr 2014 ratifiziert hat. Die Selbstbestimmung kann dann am besten respektiert werden, wenn Menschen mit Behinderungen als Arbeitgebende ihre Assistenzpersonen selbst anstellen (siehe Allgemeine Bemerkungen Nummer 5 des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen).
Ein Arbeitsvertrag kommt dann zustande, wenn sich beide Parteien (Arbeitgebende und Arbeitnehmende) einig werden. Zusätzlich müssen die rechtlichen Bestimmungen für Arbeitsverträge eingehalten werden. Dazu gehören zum Beispiel die Bestimmungen im Obligationenrecht. Darin stehen zwingende Bestimmungen über Freizeit, Ferien, Überstunden, Lohnfortzahlung bei Verhinderung, Arbeitsmaterial, Spesen, Persönlichkeitsschutz, Arbeitszeugnis, Kündigung. Der Bund hat für die Arbeit in Privathaushalten Mindestlöhne vorgeschrieben. Diese stehen in der Verordnung über den Normalarbeitsvertrag für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Hauswirtschaft (NAV Hauswirtschaft).
Darüber hinaus hat das SECO zuhanden der Kantone Empfehlungen für weitere Regelungen gemacht (Modell-NAV zur Ergänzung der kantonalen Normalarbeitsverträge für Arbeitnehmer im Haushaltsdienst gemäss Art. 359 Absatz 2 OR, kurz: Modell-NAV SECO). Der Modell-NAV SECO war ursprünglich für sogenannte Live-Ins (also Arbeitnehmende, die nur wegen der Arbeit im gleichen Haushalt wie die arbeitgebende Person leben) gedacht und wurde auf dem Hintergrund der 24-Stunden-Betreuung von betagten Personen durch vorwiegend osteuropäische Pendelmigrant_innen erarbeitet. Menschen mit Behinderungen, die ein aktives Leben führen, waren nicht im Fokus und wurden nicht einbezogen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat bereits im Jahr 2018 darauf hingewiesen, dass die Anwendung der Bestimmungen der kantonalen NAV zu Mehrkosten führen, die im Rahmen des Assistenzbeitrags nicht rückvergütet werden (siehe Informationsblatt Normalarbeitsverträge (NAV))
Die Kantone unterscheiden in ihren Normalarbeitsverträgen nun aber kaum zwischen Live-Ins und anderen Arbeitnehmenden. Auch fehlt fast immer eine Definition der 24-Stunden-Betreuung. Die Unsicherheit bei Menschen mit Behinderungen, die Assistent_innen anstellen ist deshalb gross. Folgenschwer wird es, wenn die Bestimmungen der kantonalen Normalarbeitsverträge in den ausgehandelten Einzelarbeitsverträgen nicht mehr abgeändert werden dürfen oder nur noch zuungunsten der Arbeitgebenden.
Denn die Kantone übernehmen die einzelnen Empfehlungen aus dem Modell-NAV SECO meistens 1:1 und schränken dadurch die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen zum Teil sehr stark ein oder sehen Entschädigungen vor, die mit dem Assistenzbeitrag der Invalidenversicherung (IV) nicht finanziert werden können, wie im Folgenden erläutert wird.
Was ist mit Wohngemeinschaften?
Wohnen Arbeitgeber_in und Arbeitnehmer_in im gleichen Haushalt, so muss die/der Arbeitgeber_in gemäss Modell-NAV SECO für gesunde und ausreichende Verpflegung sorgen, ein abschliessbares, möbliertes Einzelzimmer zur Verfügung stellen und kostenlosen, unlimitierten Internetzugang gewährleisten. Für Live-Ins können diese Verpflichtungen für Arbeitgebende durchaus sinnvoll sein kann.
Wohnen Menschen mit Behinderungen in Wohngemeinschaften und haben für Unterstützung ihre WG-Kolleg_innen angestellt, sind diese Regeln realitätsfremd. Auch die Verpflichtung, dass die gemeinsame Essenszeit als Arbeitszeit gilt, ist praxisfremd. Wer zahlt schon seinen WG-Kolleg_innen Lohn, wenn man gemütlich zusammen isst und sich ab und zu die Schüssel reicht?
Folgende Bestimmung zielt wahrscheinlich nicht auf WGs ab, kann aber für Menschen mit Behinderungen dennoch ungemütlich werden: «Es ist nicht möglich jemanden, der zur Erfüllung der Arbeitsleistung im Haushalt der zu betreuenden Person wohnt, nur für Präsenzzeit anzustellen.» Heisst das jetzt, Menschen mit Behinderungen dürfen ihre WG-Kolleg_innen nicht für Präsenzzeit (zum Beispiel während der Nacht) entschädigen, wenn sie nicht eine Mindeststundenzahl pro Tag – der Modell-NAV SECO spricht von sieben Stunden – arbeiten?
Als Präsenzzeit, die entschädigt werden muss, gilt die gesamte Aufenthaltszeit im gleichen Haushalt. Auch diese Bestimmung verunmöglicht ein Zusammenleben in einer WG mit Personen, die teilweise Assistenz leisten. Einerseits zahlt die IV tagsüber keine Präsenzzeiten, andererseits können Mitbewohnende ja nicht am Aufenthalt in der gemeinsamen Wohnung gehindert werden.
Vorgegebene Ruhezeiten mit aktivem Leben unvereinbar
«Während dem Nachtzeitraum zwischen 23 – 6 Uhr besteht Nachtruhe und es wird keine aktive Arbeitszeit geplant.» Diese Bestimmung im Modell-NAV SECO ist der definitive Killer der Selbstbestimmung. Das heisst, Menschen mit Behinderungen, die auf Unterstützung angewiesen sind, sind ihr ganzes Leben lang jeden Tag um 23 Uhr im Bett und kommen dort frühestens ab 6 Uhr wieder raus. Ein früher Arbeitsbeginn oder mal den Sommersonnenaufgang geniessen, nach einem Konzert, Fussballmatch, Geburtstags- oder sonstiger Party spät nach Hause kommen, den Jahresübergang feiern und das 1. August-Feuerwerk schauen, spät abends von den Ferien oder von der Arbeit heimkommen – all das wird unmöglich für Menschen mit Behinderungen, die Assistent_innen anstellen.
Wenn dann auch noch die im Arbeitsgesetz vorgeschriebene Ruhezeit von elf Stunden zwischen zwei Einsätzen übernommen wird, dann wird die Assistenzorganisation noch komplizierter. Wer keine elf Stunden ohne Assistenz überbrücken kann (zum Beispiel, weil jemand Unterstützung beim Toilettengang oder beim zu Bett gehen braucht), braucht jeden Tag mindestens zwei verschiedene Assistent_innen. Was im Alltag zuhause gerade noch organisiert werden kann, ist organisatorisch eine grosse und finanziell eine praktisch unüberwindbare Hürde, wenn jemand auch nur für eine einzige Übernachtung auswärts ist. Das heisst dann: Noch eine Übernachtungsmöglichkeit mehr organisieren und bezahlen, noch eine Reise bezahlen. Und das Problem mit den Präsenzzeiten ist dann immer noch nicht gelöst. Eine Assistenzperson kann ja während der elf Stunden, die sie nicht arbeitet, nicht kurz nach Hause fahren. Müssen wir dann auch noch doppelte Präsenzstunden bezahlen?
Wer nicht all zu viel Assistenz benötigt, diese aber regelmässig, steht mit den vorgeschlagenen Regelungen an, sobald eine Reise mehr als eine Arbeitswoche dauert. Wöchentlich müssen nämlich mindestens einmal 24 Stunden am Stück als Freizeit gewährt werden. Wer also zum Beispiel zweimal am Tag Unterstützung braucht, kann nur dann länger als eine Woche verreisen, wenn zwei Assistenzpersonen mitkommen.
Lohnzuschläge senken den Stundenlohn
Die Kosten sind ein weiteres Problem des Modell-NAVs SECO. Es werden nämlich viele Lohnzuschläge verlangt, die mit dem Ansatz des Assistenzbeitrages nicht bezahlt werden können.
Dazu gehören:
Präsenzzeit muss entlohnt werden. Über den Assistenzbeitrag der IV können aber nur aktiv geleistete Arbeitsstunden abgerechnet werden. Für Präsenzzeiten gibt es keinen Kostenträger.
Ein Nachtzuschlag von 25% für aktive Arbeitszeit während der Nacht macht nur die Abrechnung kompliziert. Da die Nachtpauschale – eine Pauschale, mit welcher die gesamten Personalkosten während der Nacht bezahlt werden müssen – beim Assistenzbeitrag fix ist, ändert sich mit dieser Vorgabe der Lohn nicht. Arbeitgebende müssen nur noch besser kalkulieren, damit auch unvorhergesehene Einsätze in der Nacht (zum Beispiel bei Krankheit) bezahlt werden können. Die tatsächlich ausbezahlten Löhne werden mit dem Nachtzuschlag deshalb eher kleiner als grösser.
Der Überstundenzuschlag von 25% bewirkt dasselbe, wie bereits beim Nachtzuschlag ausgeführt. Denn auch mit der Stundenpauschale des Assistenzbeitrages der IV müssen alle Personalkosten gedeckt werden. Die Stundenlöhne müssen tief gehalten werden, damit unvorhergesehene Überstunden bezahlt werden können. Übrigens, unvorhergesehene Überstunden können zum Beispiel dann anfallen, wenn eine andere Assistenzperson wegen Krankheit ausfällt und andere Assistenzpersonen ihr Pensum kurzfristig erhöhen. Auch mit bester Planung ist das nicht zu verhindern.
Kosten für die erstmalige Anreise vom Wohnort muss der/die Arbeitgeber_in bezahlen. Was für Pendelmigrant_innen durchaus sinnvoll sein kann, ist für Arbeitsverhältnisse von persönlichen Assistent_innen von Menschen mit Behinderungen nicht nachvollziehbar. Warum sollen Assistenznehmende jetzt plötzlich für den Arbeitsweg bezahlen und womit? Auch dies geht nur auf Kosten des Stundenlohnansatzes und schlussendlich zu Lasten der Arbeitnehmenden.
Noch mehr Bürokratie
Dass die Arbeitszeit erfasst wird und eine Lohnabrechnung erstellt wird, ist für Menschen mit Behinderungen, die Assistent_innen anstellen, selbstverständlich. Dass nun der Modell-NAV SECO umfangreiche Arbeitszeitdokumentationen verlangt, die die geleisteten aktiven Arbeitsstunden und Präsenzzeiten, die Pausen, die während der Präsenzzeiten geleisteten Arbeitseinsätze, die Arbeitsstunden in der Nacht und die Überstunden separat aufführen, und die ganze Dokumentation auch noch wöchentlich durch alle Vertragsparteien visiert werden muss, ist administrative Schikane und nicht praxistauglich.
Was, wenn eine Assistenzperson in der zweiten Wochenhälfte krank wird? Und nicht auszudenken, welcher Dokumentationsaufwand bei Wohngemeinschaften entsteht, wenn gemeinsam gekocht, geputzt, gewaschen usw. wird.
Rückschritt statt Fortschritt
Mit den Regelungen sollen Arbeitnehmende geschützt werden. Bei Arbeitsverhältnissen im Bereich persönlicher Assistenz von Menschen mit Behinderungen wird damit wohl oft das Gegenteil erreicht. Menschen mit Behinderungen, die Assistent_innen anstellen, werden ihre schwer erkämpfte Selbstbestimmung nicht einfach so aufgeben, weil die Gesetzgebenden nicht an ihre Lebensumstände gedacht haben. Sie werden Wege suchen, die ihnen ein aktives Leben weiterhin ermöglichen.
Ein solcher Weg ist Freiwilligenarbeit, also unbezahlte Arbeit. Wenn Assistenzpersonen ohne Lohn arbeiten, so gelten all die Regelungen nämlich nicht.
Dann
können Menschen mit Behinderungen auch nach 23 Uhr ins Bett und vor 6 Uhr aufstehen
braucht niemand Ruhezeiten einzuhalten
muss auch Präsenzzeit nicht entschädigt werden
dürfen auch Jugendliche, die noch nicht volljährig sind, Unterstützung leisten
Wenn Assistenzpersonen gratis arbeiten, haben sie nicht nur kein Einkommen, sondern auch keine soziale Absicherung bei Unfall, Krankheit oder im Alter. Wollen wir das wirklich?
Auch für Menschen mit Behinderungen ist der Rückgriff auf Freiwilligenarbeit ein Rückschritt. Sie sind wiederum auf den Goodwill und das Wohlwollen von Menschen angewiesen, die ihre Freizeit für Menschen mit Behinderungen «opfern».
InVIEdual, der Verein von Menschen mit Behinderungen, die Assistent_innen anstellen, wehrt sich nicht gegen Rechte für Arbeitnehmende. Diese müssen aber so ausgestaltet sein, dass die Selbstbestimmung nicht auf der Strecke bleibt.
Wir fordern die Kantone auf, die Anliegen von Menschen mit Behinderungen, die Assistent_innen anstellen, bei der Überarbeitung der NAVs zu berücksichtigen. InVIEdual ist gerne bereit, fachlichen Input zu geben.

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