Die Schweiz nahm mit einer Vertretung von sieben InVIEdual-Mitgliedern zum ersten Mal am Freedom Drive teil. Unter dem Motto «Reclaiming our rights now!» - «Holen wir uns unsere Rechte jetzt!» - versammelten sich Menschen mit Behinderungen aus ganz Europa in Brüssel zu einer dreitägigen Konferenz. Höhepunkt war der Protestumzug vor das EU-Parlament.
Freiheit – nicht mehr und auch nicht weniger!
Sprechchöre, begleitet von Trompeten und Trommeln, erschallen in den Strassen von Brüssel. Es ist Freedom Drive – der wohl wichtigste Anlass des European Network on Independent Living (ENIL). Er findet alle zwei Jahre in Brüssel statt und macht auf die unzureichende Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention aufmerksam. 300 – 400 Menschen mit Behinderungen aus ganz Europa haben sich versammelt – viele sind mit ihren persönlichen Assistent:innen unterwegs. Wir machen lautstark auf uns aufmerksam: «Nichts ohne uns!», «Reisst die Barrieren nieder!», «Institutionen sind nicht unser Zuhause – Selbstbestimmtes Leben ist der richtige Weg!», «Wir sind hier, wir sind laut, wir sind behindert und stolz darauf!»
«Als grosse Gruppe von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen gingen wir durch die Strassen und forderten Freiheit, und zwar jetzt! Das war mein Highlight des Freedom Drives,» sagt Sina Eggimann. Dabei betont sie, dass Freiheit für uns Menschen mit Behinderungen bedeutet, dass das, was für andere Menschen selbstverständlich ist, für uns kein Luxus sein darf – nicht mehr und auch nicht weniger.
«Es war wirklich grossartig, wie so viele Leute aus ganz Europa im Chor riefen «Institution no solution!» und damit darauf hinwiesen, wieviel Arbeit noch vor uns liegt,» fasst Raphaël de Riedmatten seine Eindrücke zusammen.
Schon im Vorfeld wurden Plakate und Banner gemalt. Petra Stokar hat dabei eine neue Art von Kunst entdeckt: «Ich kombiniere nun meine Kunstwerke mit Text – ein starkes Instrument, um Menschen eine Stimme zu geben. Selbstverständlich brauche ich dazu persönliche Assistenz.»
Fotoimpressionen vom Freedom Drive: Menschen mit und ohne Rollstuhl auf der Strasse, in Gebäuden, vor und im europäischen Parlament.
Zusammenstehen, um für unsere Rechte einzustehen
Der Protestumzug endet beim EU-Parlament, wo wir die Freedom Drive Forderungen (siehe unten) übergaben. Dort wurden wir von Katrin Langensiepen, einer von drei EU-Parlamentarier:innen mit Behinderungen, empfangen. In ihrer Begrüssungsrede erwähnt sie sogar unsere Schweizer Delegation. Sie schätze es sehr, dass wir auch da seien, obwohl die Schweiz nicht EU-Mitglied ist. Simone Leuenberger hat diese Worte sehr berührt: «Es zeigt mir einmal mehr: Um für unsere Rechte einzustehen, müssen wir zusammenstehen.»
Nachher geht es weiter an die Geburtstagsparty von ENIL. Verschiedene Selbstbestimmt-Leben-Aktivist:innen erzählen aus den vergangenen 35 Jahren. Nachher bleibt genügend Zeit, um Kontakte zu knüpfen, uns auszutauschen und Erfolge und Misserfolge zu teilen. «Der Austausch mit Organisationen und Leuten vor Ort über die verschiedenen Systeme und Situationen war sehr bereichernd,» fasst Gian Andrea Kollegger zusammen. Und das Fazit von Emmanuelle Chaudet-Julien: «Der Freedom Drive ist eine super Gelegenheit, um die Welt zu treffen! Wir sind alle verschieden und sprechen dennoch von der gleichen Sache: Wir müssen für unsere Rechte einstehen!»
De-Institutionalisierung, nicht Re-Institutionalisierung
In Workshops und mit Vorträgen lernen wir Projekte aus ganz Europa kennen und teilen miteinander unsere Erfahrungen aus. Dabei stellt sich heraus, dass wir alle immer wieder mit denselben Dingen kämpfen: «Unsere Begriffe und Konzepte werden umgedeutet und missbraucht,» sagt Brian McGowan. So findet nicht nur in der Schweiz eine Institutionalisierung in den eigenen vier Wänden statt. Es wird zwar zunehmend anerkannt, dass Menschen mit Behinderungen in einer eigenen Wohnung leben wollen. Die Unterstützung, die sie brauchen, kommt aber immer noch aus einer Institution bzw. von einem Dienstleister, ist also fremdbestimmt. Ein Leben mit persönlicher Assistenz ist für viele Menschen mit Behinderungen immer noch unerreichbar.
Mut macht ein Projekt aus Norwegen zur unterstützten Entscheidfindung. Dabei werden Menschen mit kognitiven Behinderungen von verschiedenen Bezugspersonen begleitet. Ziel ist, dass sie gemäss ihrem wirklichen Willen und ihren Präferenzen entscheiden können und nicht jemand stellvertretend für sie entscheidet. «Der Vorwand, Menschen mit kognitiven Behinderungen zu schützen, darf nicht dazu dienen, ihnen ihre Rechte vorzuenthalten,» lehrt uns Theresia Degener, deutsche Juristin und Professorin für Recht und Disability Studies.
See you in 2026!
Wir kehren heim mit vielen neuen Kontakten, Ideen und einer neuen Portion Beharrlichkeit und Durchhaltewillen. Oder mit den Worten von Emmanuelle Chaudet-Julien: «Es hat uns zusammengeschweisst, motiviert, mobilisiert. Wunderbar, dass ich daran teilhaben durfte!»
Der nächste Freedom Drive wird voraussichtlich vom 21. – 23. September 2026 wieder in Brüssel stattfinden. Reserviert euch das Datum schon mal dick in der Agenda. Wir wollen, möglichst mit einer grösseren Schweizer Delegation, wieder mit von der Partie sein.
Angefragt, ob wir dann aus unseren Erfahrungen in der Schweiz berichten könnten, wurden wir bereits. Ja, machen wir gerne! Und wir hoffen, bis dann noch einige Erfolge zu erzielen im Kampf für ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen.
Freedom Drive Forderungen
Dies ist die Kurzversion. Die vollständigen Forderungen sind hier abgelegt (auf englisch). Übrigens, die Forderungen richten sich nicht nur an die EU, sondern an alle Staaten, die die UNO-BRK ratifiziert haben – also auch an die Schweiz!
Einstellung der staatlichen Finanzierung von Einrichtungen jeglicher Grösse und institutioneller, segregativer Dienstleister. Reform aller Rechtsvorschriften über EU-Mittel und staatliche Beihilfen, um sicherzustellen, dass die Finanzmittel in gemeindenahe Dienste fliessen.
Garantieren des Rechts auf ein selbstbestimmtes Leben durch die Festlegung von Standards für den Zugang zu gemeindenahen und personenzentrierten Diensten in Übereinstimmung mit der UN-BRK. Die Verabschiedung von Strategien zur Ausweitung von gemeindenahen und personenzentrierten Diensten in der Gemeinschaft und zur Deinstitutionalisierung in allen Mitgliedstaaten und durch globale Massnahmen.
Anerkennung der unterstützten Entscheidungsfindung in länderübergreifenden Situationen. Zu diesem Zweck sollte die vorgeschlagene Verordnung über den Schutz unterstützungsbedürftiger Erwachsener vollständig überarbeitet werden, indem alle Absätze über den Entzug der Handlungsfähigkeit ersetzt werden.
Schaffung der Gleichstellung von Menschen mit und ohne Behinderung sowie in der Gesellschaft im Allgemeinen und Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung. Zu diesem Zweck ist der gleichberechtigte Zugang zu Beschäftigung, Gesundheitsversorgung, sozialer Sicherheit, Bildung, allen Gütern und Dienstleistungen sowie zu Wohnraum in der Gemeinschaft sicherzustellen.
Sicherstellen, dass die Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention in allen Politikbereichen koordiniert wird. Die EU benötigt die Einrichtung von Anlaufstellen in allen Politikbereichen, einen angemessenen interinstitutionellen Koordinierungsmechanismus und einen zivilgesellschaftlichen Mechanismus.
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